Herr Kubrick, Ihr neuer Film Full Metal Jacket ist ein Anti-Kriegsfilm, ein Vietnam-Film. Es gibt viele Vietnam-Filme. Warum haben Sie Full Metal Jacket gedreht, wollten Sie damit auch andere Vietnam-Filme korrigieren?
Angefangen hat es damit, daß ich das Buch The Short-Timers von Gustav Hasford, der Kriegskorrespondent bei den Marines war, gelesen habe und fand, daß es sich um einen außerordentlichen, ungewöhnlichen Roman handelt. Es kostet mich immer mehrere Jahre, um eine Story zu finden, von der ich glaube, daß sich ein Film daraus machen lässt.
Suchen Sie dabei nach einem bestimmten Thema? Also gezielt nach Vietnam?
Das habe ich längst aufgegeben, denn dazu sind gute Geschichten zu selten. Natürlich interessiere ich mich auch für Vietnam. Aber ich habe nicht speziell nach einer Vietnam-Geschichte gesucht.
Uns fällt an Ihrem Film auf, daß er den Krieg aus zwei besonderen Blickwinkeln betrachtet. Einmal wird er gleichsam an seine Wurzeln zurückgeführt: Der erste Teil handelt von der unmenschlichen, schier bestialischen Ausbildung einer Kompanie der Marines. Und zum anderen wird hier nicht der malerische Dschungel-Krieg mit seiner immer noch exotischen Ausstrahlung vorgeführt, sondern ein Krieg in den Ruinen einer Stadt. Waren das für Sie die entscheidenden Beweggründe, das Buch zu verfilmen?
Nein, einfach, daß Hasford ein großer Schriftsteller ist. Seine Vorstellungskraft und seine Bilder sind zwingender als die anderer Autoren. Seine Dialoge sind aufrichtiger. Sein Wahrheitssinn ist außergewöhnlich. Eine der Größten Schwierigkeiten des Filmemachens ist das Finden guter Geschichten. Das fängt schon damit an, daß ein Roman kein Drehbuch ist. Und nur sehr wenige Leute schreiben Originaldrehbücher. Schriftsteller tun das nur selten. Noch weniger Regisseure sind gute Schreiber, da gibt es eigentlich nur Woody Allen und Ingmar Bergman. Und Truffaut, wenn der noch lebte. Gute Originaldrehbücher sind Wunderwerke, die man nur einmal in seinem Leben gedreht. Zum Beispiel Citizen Kane. Und Orson Welles hat ja in der Tat auch nur einen Citizen Kane in seinen ganzen Leben gedreht.
Die erste Hälfte Ihres Films spielt in dem Ausbildungs-Camp Parris Island. Ein Sergeant bildet eine Kompanie von Marineinfanterie-Rekruten aus, sie werden zu Kriegsmaschinen erniedrigt und abgerichtet. Heißt Ihr Film deshalb Full Metal Jacket weil man aus Menschen von Anfang an eine Art Kriegsmunition macht ?
Man kann Menschen zu Waffen machen. Oder wie es der Sergeant in meinem Film ausdrückt: Ein Gewehr ist nur ein Werkzeug, es ist das harte Herz, das tötet
Lee Ermey, der den Sergeanten in dem Film spielt, war ja wirklich ein Schleifer in Parris Island bei den Marines. Sie hatten ihn sich ursprünglich als militärischen Berater geholt.
Ja, er spielt sich selbst. Es ist ein Glücksfall, fast ein Wunder, wenn man jemanden findet, der so spielen kann und dann auch noch sich selber. Das passiert einem auch nur einmal im Leben.
Als er sich dann im Film sah als sadistische Drecksschleuder, war er da nicht entsetz?
Er hat sich gefallen. Man muß sich eines klarmachen: Wenn sich jemand entschließt, Ausbilder bei den Marines zu werden, dann wird er das nicht tun, weil er ein besonders humanistischer, feinfühliger, sensibler Mensch ist. Ein Spieß ist weder ein Menschenfreund noch ein Soziologe. Ich glaube übrigens, daß auf der Welt nur sehr wenige Armeen ihre Elitetruppen anders, also feinfühliger ausbilden.
Das ist sicher richtig, aber in anderen Filmen über militärischen Schliff wird immer gezeigt, daß der Ausbilder seine Leute im Grunde nur quält, weil er es gut mit ihnen meint: Er will die Überlebenschancen seiner Rekruten im Krieg steigern.
Die meisten Filme wollen sich beim Publikum anbiedern. Es sind nachträgliche Rationalisierungen, wenn die Driller behaupten, sie hatten den Rekruten mit der Schinderei einen Gefallen tun wollen. Die Tranen, die sie am Ende der Ausbildung in den Augen haben wie in dem Film Ein Offizier und Gentleman...
...oder jetzt in Coppolas Gardens of Stone...
...ja, diese Tränen sind pure Sentimentalität. Sie sind auf jeden Fall verlogen. Wenn es sie gegeben haben sollte, sind sie völlig atypisch.
Man sagt, die harte Ausbildung sei nötig, um die Todesfurcht zu zerstören. Und um die zu zerstören, muß man die Persönlichkeit zerstören.
Die Jungs, die zum Militär gehen, halten sich eigentlich noch für unsterblich. Todesangst kennen sie nicht. Damit hat man also die geringsten Probleme. Aber worum es geht, das sagt der Sergeant am Schluss der Ausbildung: Marinesoldaten sterben, dazu sind sie da. Aber das Marinecorps lebt für immer. Auf diese Weise verkauft er ihnen eine Billigausgabe der Unsterblichkeit.
Besteht die Ironie Ihres Films auch darin, daß diese harte Ausbildung zwecklos ist, daß sie, wenn es wirklich zum Krieg kommt, nichts nützt und nichts taugt?
Sie gibt den Soldaten immerhin die Chance zu überleben.
Aber die meisten der Soldaten in Ihrem Film überleben doch gerade nicht. In einer Szene sieht man einen Truppführer mit einer Landkarte in der Hand inmitten der Trümmerwuste von Hué. Er ist total verloren, trotz aller guten Ausbildung.
Wenn Sie schon ein Symbol darin sehen wollen: Es gibt im Chaos keine Orientierung mehr.
Am Ende der Ausbildung erschießt ein besonders brutal zur Kampfmaschine Abgerichteter den Sergeanten, den ihn zum Töten ausgebildet hat. Das erinnert an die Revolte des Computers Hal in 2001. In beiden Fallen erhebt sich ein Roboter gegen seinen Herrn.
Ich habe die Szene zwar gewiss nicht deshalb gedreht, aber eine Ahnlichkeit ist sicher vorhanden.
Sie haben Full Metal Jacket in der Umgebung Londons in der Nahe eines Gaswerkes gedreht. Warum nicht in Südostasien?
Zunächst einmal wegen der Ruinen. Die Architektur der Gebäude um das Gaswerk war die funktionale Architektur der Dreißiger Jahre. Sie war exakt die gleiche wie die Industrieviertel vietnamesischer Städte, etwa wie Saigon oder Hué. Der Schauplatz war also geradezu ideal. Noch dazu, da es sich um ein ausgedehntes Stadtgebiet handelte und wir dann auch noch die Erlaubnis bekommen haben, den ganzen Komplex in die Luft zu jagen, weil er ja ohnehin abgerissen werden sollte. Die Tet-Offensive wat ein Krieg in den Städten. Es hatte also keinen Sinn gemacht, auf die Philippinen zu fahren, um da im Dschungel zu drehen, außerdem ist die Architektur der philippinischen Städte spanisch geprägt. Ich habe mir nur schwer vorstellen können, daß es mir die vietnamesische Regierung gestatten würden, eine vietnamesische Stadt in die Luft zu sprengen, bloß um einen Film zu drehen. Also war es das zweite Wunder nach dem Sergeanten Lee Ermey, daß ich diese Stadt gefunden habe. Jedenfalls sind das die herrlichsten Ruinen, die ich je in einem Film gesehen habe.
Man könnte da zwei winzige Einwände machen. Ihre Marines schwitzen nicht, weil der Film in London gedreht wurde. Und auch das Licht wirkt anders als in Südostasien.
Da irren sich aber. Erstens: Das Wetter während der Tet-Offensive, die der Autor Hasford und der Drehbuchautor Herr miterlebt haben, war kühl und regnerisch, der Himmel bewölkt. Wir sind beim Drehen sogar so weit gegangen, daß wir aufhörten zu drehen, sobald in London die Sonne schien. Zweitens: Was das Licht anbetrifft, so haben sie ganz und gar unrecht; das hängt nur vom Einfallswinkel der Sonne ab, egal, ob in Asien oder in England. Und die Farben des Lichts hängen nur von der Filmkopie ab. Sie lesen also Ihre Vorbehalte bestenfalls in den Film hinein, weil Sie wissen, daß er in London gedreht worden ist.
Sie haben in Ihrem Film den Soldaten jegliches Privatleben genommen. Sie sprechen weder über ihre Familien noch über ihre Freundinnen, noch sonst wie über ihr Zivilleben.
Mein Film spielt wahrend der ersten acht Wochen der Ausbildung, und wahrend dieser Zeit ist es den Rekruten ausdrücklich verboten, überhaupt miteinander zu sprechen.
Und wahrend des Krieges...
...da dürfen die natürlich miteinander sprechen. Aber was mich an dem Buch besonders fasziniert hat: daß im Unterschied zu anderen Kriegsbüchern all die obligatorischen Szenen fehlen, in denen die Soldaten rührende Geschichten über ihre Eltern und Braute erzahlen.
Fast die einzigen Kontakte der Soldaten mit der vietnamesischen Bevölkerung sind Preisverhandlungen mit Huren.
Die Soldaten in Vietnam haben im Grunde auch nur mit Zuhaltern, Huren und Schuhputzern gesprochen. Wie hatten auch mit anderen Leuten sprechen sollen? Sie verstanden die vietnamesische Sprache nicht, und die Vietnamesen sprachen kaum englisch.
In Ihrem Film zeigen Sie den Krieg aus dem Blickwinkel eines Kriegsberichterstatters, der für Stars and Stripes arbeitet. Der Vietnamkrieg ist bei Ihnen ein Krieg der Medien, die Schlacht auch eine der Sprachregelung.
Ja. Eine Schlüsselszene dafür ist die Redaktionskonferenz der Kriegsberichterstatter, bei der ein Presseoffizier seine Leute instruiert. Er sagt, daß es im Grunde nur zwei Sorten von Geschichten über den Vietnamkrieg gäbe. Einmal die Geschichte, in der die Frontschweine ihren halben Sold dafür ausgeben, um den Vietnamesen Zahnbürsten und Deodorant zu schenken, zum anderen Schlachtgemälde, in denen möglichst viele Vietnamesen getötet werden und man so dem Sieg wieder einen Schritt naher gekommen ist.
Daneben gab es Sprachregelungen, an die sich Journalisten halten sollten.
Der Vietnamkrieg war der erste Krieg, der vor allem auch als Werbekampagne in den USA geführt wurde. Die Manipulation der Wahrheit durch die Medien wie durch die Regierung war eines seiner Ziele. Dadurch wurde der amerikanischen Öffentlichkeit während des ganzen Krieges ein falsches, manipuliertes Bild vermittelt. Es verführte die Soldaten zum permanenten Lügen; dauernd wurden die Zahlen der getöteten Feinde übertrieben. Man projizierte Siege, wo sie unmöglich waren. Ironischerweise wurde der Krieg auch durch die Medien verloren. Weil er von Anfang an ein PR-Krieg war, wurde er auch durch die Public Relations verloren. Die Tel-Offensive war ja in Wahrheit eine Niederlage des Vietcong. Er hatte ungeheure Verluste, er erreichte seine Ziele nicht, weil sich die Bevölkerung in den Städten nicht erhob, wie er es erwartet hatte. Der Vietcong hatte gedacht, er müsse nur kommen und es würde Aufstande geben. Nichts dergleichen geschah. Die Offensive war also ein Fehlschlag. Womit der Vietcong allerdings nicht gerechnet hatte, war der Schock, den die amerikanische Öffentlichkeit durch die Kampkraft wahrend der Offensive erlitten hat. Nachdem sie jahrelang mit verlogenen und übertriebenen Siegesmeldungen überschüttet worden waren, hatten die Amerikaner zu Hause nicht mehr mit der Offensive gerechnet. So wurde ironischerweise die Niederlage des Vietcong zu einem psychologischen Sieg. Im Film gibt es eine Stelle, an der Amerikas berühmtester Fernsehkommentator, Walter Cronkite, den Präsidenten über den Bildschirm auffordert, es müsse jetzt endlich über einen Waffenstillstand verhandeln. Als President Johnson dies hörte, wusste er, daß der Krieg im Grunde verloren war, weil die amerikanische Öffentlichkeit nicht langer Bereit war, ihn bei der Kriegführung zu unterstützen.
Deshalb ist auch der Presseoffizier ein besonders gutaussehender Mann, elegant mit strahlend blauen Augen und blendenden Manieren.
Ja, er wirkt, als ob er aus einem Werbefilm käme, schlank, anziehend und gescheit. Alles, war er sagt, klingt gut. Hasford hat mir eine Schlagzeile in einer Soldatenzeitung gezeigt, die wie die Quintessenz aller Schlagzeilen über den Vietnamkrieg wirkt: Die Marines lassen sich nicht gern stören, wahrend sie ihr Chow essen.
Haben Sie einen antiamerikanischen Film gedreht?
Ganz und gar nicht. Es ist ein Film über die vietnamesische Tragödie. Natürlich kann ein Film keine detaillierte Schilderung davon geben, warum der Vietnamkrieg zur Tragödie wurde, warum unser Engagement falsch war, wie wir uns Schritt für Schritt tiefer und auswegloser verstricht haben. Inzwischen wissen, glaube ich, die meisten Leute, daß die USA einen Fehler gemacht haben, als sie sich in den Konflikt verwickeln ließen.
Die Schizophrenie des Krieges zeigt sich daran, daß Ihre Hauptfigur, der Kriegskorrespondent Private Joker, auf dem Helm die Aufschrift Born to Kill tragt und an der Jacke gleichzeitig das Zeichen der Friedensbewegung. Das ist doch eher ein Symbol als ein realistisches Detail?
Es ist ein Zeichen für den Dualismus. Private Joker sagt ja zu einem Oberst, der ihn nach dem Button fragt, daß Menschen gespalten seien in Fremdenhass und Misstrauen auf der einen, in Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft auf der anderen Seite.
Und Sie können sich wirklich vorstellen, daß ein Elitesoldat in Vietnam einen Friedensbutton getragen hat?
Wahrend des Vietnamkriegs konnte man erleben, wie sich Disziplin und Moral der Truppe mehr und mehr auflösten. Daß Friedenszeichen ist Ausdruck dessen. Es hat sicher in dieser Phase Soldaten gegeben, die das Friedenszeichen trugen.
Sie leben seit mehr als zwanzig Jahren in England. Gibt es für den Amerikaner Kubrick dafür eine politische Motivation?
Nein.
Aber zu Ihrem Film Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben (1963), das war noch mitten im kalten Krieg, war in amerikanischen Kritiken zu lesen, sie besorgten die Geschäfte der Sowjetunion, indem Sie Amerikas Kampfkraft schwächten.
Nur wenige Kritiker haben so was geschrieben. Nein, warum ich in England lebe, hat andere Gründe. Es gibt praktisch nur drei Orte auf der Welt, wo man als englischsprechender Filmemacher wirklich arbeiten kann. Hier in London, in New York und in Los Angeles. Von seinen technischen Möglichkeiten ist London der zweitbeste Ort. Es ist außerdem zum Leben die angenehmste Stadt. Los Angeles ist Nummer eins, aber dort möchte ich wirklich nicht leben. New York kommt erst an dritter Stelle.
Was stört Sie an Hollywood, an Los Angeles? Das Klima? Die Atmosphäre?
Los Angeles ist doch eigentlich nichts anderes als eine einzige große Filmgesellschaft. Also kann man sich praktisch nie aus dem dauernden Konkurrenzdruck, dem ständigen Gerede zurückziehen. Immerzu fragt einen jemand: Wie läuft’s denn? , Sind Sie immer noch nicht fertig? , Drehen sie immer noch? Schon deshalb bin ich lieber hier in London.
War es denn für Sie eine schwere Entscheidung, Amerika zu verlassen?
Es war überhaupt keine Entscheidung, es hat sich einfach so ergeben. Ich kam 1962 hierher, um Lolita zu drehen. Ich hatte nicht viel Geld, und hier war das Filmemachen im Verhältnis zu Amerika ungeheuer billig. Später, für Dr. Seltsam, fehlte mir wiederum das nötige Geld, also kam ich wieder hierher.
Ihre Schwester schickt Ihnen aus den USA regelmäßig Videokassetten mit Aufzeichnungen von Footballspielen. Ist das Heimweh?
Nein. Wenn man Filme dreht, ist man da zu Hause, wo man sie dreht. Das heißt, man macht überall das gleiche. Ich habe in München Wege zum Ruhm gedreht. Da verstand ich nicht einmal die Sprache und hab’ mich trotzdem nicht fremd oder gar heimwehkrank gefühlt.
Ihre Filme haben alle total verschiedene Themen. So unterschiedlich Ihre Filme sind – kann man der Krieg nach innen und außen, also die Aggression und wie sie entsteht, als Ihr beherrschendes Thema sehen?
Ich sehe meine Filme nicht so. Das einzige, was ich suche, ist eine gute Story.
Sie sind als Perfektionist bekannt, ja verschrien. Das gilt ja nicht nur für Ihre hartnackige Suche nach der perfekten Geschichte. Man erzahlt sich auch, daß Sie manche Einstellungen bis zu hundertmal drehen.
In diesen Ruf bin ich eigentlich zu Unrecht geraten. Es ist doch in Wahrheit so: Manche Schauspieler kommen unvorbereitet zum Drehen. das heißt, sie können ihre Texte nicht, jedenfalls nicht so gut, daß sie sie sprechen könnten, ohne daß man die Anstrengung merkt. Aber wenn man angestrengt an seinen Text denken muß, dann kann man nicht spielen. Hinzu kommt: Viele Schauspieler gehen nach den Proben nicht nach Hause. sondern sie machen am Abend einen drauf. Man merkt bald, daß am ersten Drehtag nichts Gescheites zustande kommt, Verliert eine Stunde um die andere. Und man denkt, okay, vielleicht fange ich besser einfach an zu drehen; dann drehe ich, weil vieles verkehrt ist, dieselbe Szene wieder und wieder in der Hoffnung, es könnte hier und da ein Fitzelchen Richtiges unter dem vielen Falschen sein. Am Ende eines solchen Tages habe ich dann vielleicht wirklich sechzigmal dieselbe Einstellung gedreht, um mir anschließend die richtigen Schnipsel herausfischen zu können. Dann aber passiert folgendes: Der Schauspieler geht am Abend nach Hause, gibt dann vielleicht ein Interview und erzahlt, was Mr. Kubrick doch für ein phantastischer Regisseur sei, der eine Szene hundertmal drehe. Was er nicht erzahlt: Warum ich sie oft drehen musste.
Aber es wäre doch keine Schande, eine Szene so oft zu drehen ?
Aber eine Dummheit, wenn der Kerl wirklich gut vorbereitet gewesen wäre.
Und wie steht es damit, daß Sie angeblich wochenlang auf den richtigen Sonnenuntergang warten?
Absoluter Quatsch.
Sie gelten als Misanthrop, als Menschenfeind, sind Sie es wirklich?
Nein.
Aber in Ihren Filmen bleibt am Menschen wenig Gutes und Tröstliches übrig; dazu schauen Sie zu genau hin.
Joseph Conrad hat einmal gesagt: Der Mensch, obwohl ein Schwächling, ist oft auch noch ein Narr. Das scheint mir eine zutreffende Beobachten zu sein. Und wenn man das in seinen Filmen zeigt, ist man kein Misanthrop, sondern ein genauer Beobachter.
Kann man sagen, daß Sie die Menschen aus dem Blickwinkel Jonathan Swifts betrachten?
Eher aus dem Joseph Conrads.
Als Satiriker sind Sie aber Swift oft sehr nahe.
Aber nicht im gleichen extremen Ausmaß.
Sie sind auch als Einsiedler verschrien.
Weil ich nur ganz selten Interviews gebe, landen die in den Aktenordner und werden, mangels neuen Stoffs, wieder und wieder zitiert. Dabei kommt es zu den seltsamsten Mythen, die immer wieder abgeschrieben werden.
Aber solche Legenden sind doch schmeichelhaft, damit muß man doch leben können.
Also, allzu viel Kopfzerbrechen bereitet mir das nicht. Aber ich lese zum Beispiel immer wieder, daß ich aus Angst beim Autofahren einen Footballhelm trage und daß ich meinem Chauffeur verbiete, schneller als fünfzig Stundenkilometer zu fahren. Die Wahrheit ist, ich habe keinen Chauffeur, und ich fahre einen Porsche 928 S. Ich habe auch gelesen, daß ich eine solche Panik vor Insekten hätte, daß ich in meinem Garten einen Hubschrauber gegen die Mücken einsetze. Natürlich purer Unsinn.
Dann gibt es noch den omnipotenten Oberaufseher Kubrick, den Mann mit den tausend Computern.
Ja, das ist die Mär vom Verrückten Wissenschafter. Ich sitze da, eingekreist von Computern und Maschinen. und kontrolliere die ganze Erde. Ein zweiter Dr. Mabuse.
Und wenn in Freiburg, bei einer Vorstellung von A Clockwork Orange zum Beispiel, der Vorhang ein paar Minuten zu früh fällt, ehe der Nachspann zu Ende ist, dann sollen Sie noch mitten in der Nacht ans Telefon stürzen und Ihren Verleih mobilisieren.
Schön wär's. Aber leider erfahre ich so was ja nicht. Richtig ist folgendes: Als ich anfing, die Kinos auf ihre Technik überprüfen zu lassen und den Kinobesitzern auf die Finger zu schauen, galt das als extrem exzentrisch. Inzwischen ist das eine ganz alltägliche Sache. George Lucas zum Beispiel hat eine Firma gegründet, die nicht anderes macht, als die technischen Einrichtungen von Kinos zu überprüfen, bevor er ihnen seine Filme anvertraut. Denn die meisten Filmtheater sind schrecklich heruntergekommen. Kinobesitzer verschwenden in der Regel keinen Pfennig dafür, ihre Apparaturen in Schuss zu halten.
Wie können Sie die Kinos kontrollieren?
Überhaupt nicht. Ich kann mir nur die zehn führenden Kinos ansehen und die Helligkeit der Leinwand überprüfen lassen und nachsehen, ob die Linsen scharf und die Lautsprecher in Ordnung sind. In vielen Kinos scheppert mindestens ein Lautsprecher oder arbeitet überhaupt nicht. Die Zuschauer sind ja erstaunlich apathisch. Ich kenne ein Kino, wo bei einer Filmkopie die Rollen so vertauscht waren, daß der Film in den Rollenfolgen 1, 2, 3, 3, 5, 6 lief. Und am Schluss haben sich ganze sechs Zuschauer beschwert, daß sie einen Akt zweimal und einen anderen überhaupt nicht gesehen hatten. Man stelle sich vor: zwanzig Minuten doppelt! Zuschauer sind äußerst leidensfähig.
Liegt das vielleicht daran, daß viele Leute immer noch glauben: Na ja, es ist ja nur Kino? Während Sie den Film als die zeitgenössische Kunstform betrachten.
Es gibt schon eine ganze Menge Leute, die das Kino sehr ernst nehmen. Andere sehen es nur als Möglichkeit, um mal vorn Regen ins Trockene zu kommen.
Eltern haben Lieblingskinder, die sie wegen ihrer Stärken oder auch wegen ihrer Schwächen bevorzugen. Haben Sie ein Lieblingskind?
Immer den Film, den ich gerade gemacht habe.
Und welches ist Ihr persönlichster Film?
Ich würde da eine ganze Gruppe nennen: 2001, Clockwork Orange und Dr. Seltsam. Ich denke, das sind meine besten Filme - schon weil sie eine filmgemäßere Geschichte als Barry Lyndon haben.
Und Lolita? Ist Lolita vielleicht deshalb ein schwächerer Film, weil sein Nymphchen-Thema in den prüden fünfziger Jahren eigentlich gar nicht verwirklicht werden konnte?
Ja, wahrscheinlich. Aber dazu kommt, daß man aus Nabokovs Buch nichts hätte machen können, was nicht hätte enttäuschen müssen. Nabokovs Roman ist so wunderbar geschrieben.
... lebt so sehr aus der Sprache...
Vollkommen aus der Sprache. Wenn man die Sprache wegnimmt, dann bleibt das gewiss noch eine gute Geschichte. Wäre Lolita von einem schlechteren Schriftsteller geschrieben worden, wäre vielleicht der Film besser. Aber Nabokov war ein so außergewöhnlicher Schriftsteller, daß es nicht sehr klug war, seinen Roman zu verfilmen.
Also die Gefahr des zu guten Erzählstils. Wie steht's da bei Shining?
Bei Shining glaube ich, daß der Film viel besser ist als der Roman. Stephen King, der Autor, glaubt natürlich, der Roman sei viel besser der Film.
Was ist neben der guten Geschichte das Wichtigste beim Filmen?
Das Schneiden. Es ist der einzige Vorgang, bei dem der Film keine Anleihen bei anderen Künsten macht. Man kann doch sagen, daß das Drehbuchschreiben eine Anlehnung an die Literatur darstellt, das Proben vor der Kamera dem Theater entliehen ist, das Drehen eine Anwendung der Fotografie bedeutet. Nur beim Schneiden ist der Film ganz bei sich, er hat etwas, was keine andere Kunstform aufweisen kann.
Ein Film entscheidet sich also am Schneidetisch?
Ja. Und bei der ersten Probe. Ich glaube, das die erste Probe einer Szene genauso entscheidend ist. Hier muß es gelingen, etwas sichtbar zu machen, was das Filmen lohnt. Vieles kommt hier zusammen: Wie gut ist die Szene geschrieben? Wie gut sind die Schauspieler? Wie tragfähig ist die Idee, die sich in dieser Szene verdeutlichen soll? Wenn hier wirklich etwas Entscheidendes zustande kommt, dann ist das Drehen nachher vergleichsweise leicht. Die erste Probe, das heißt; die Geschichte noch einmal schreiben.
Filme wie A Clockwork Orange enthalten Elemente, die direkt aus dem Stummfilm zu stammen scheinen. Sie halten den Stummfilm auch für originärer als den Tonfilm.
Ja, die Stummfilme haben, weil sie mußten, ihre Geschichten vollkommen anders erzählt als das Theater oder die Literatur. Sie haben beispielsweise nur ein einfaches Statement gesetzt und es dann kurz und knapp bebildert. Sie brauchten keine abgerundete Szene, um Etwas zu erzählen. Als den Ton dazukam, fiel der Film zurück in die Konventionen des Theaters. Ich finde. Filme sollten in der Lage sein, ihre Geschichten mit größerer Ökonomie als das Theater zu erzählen. Das realistische Theater kann große Augenblicke mit unvergleichlich großer Kraft darstellen, aber es tut dies auf eine sehr schwerfällige und langsame Weise. Die Tonfilme oft der Tradition des realistischen Theaters verhaftet. Daher muß der Film heute seine Lektion von den Stummfilmen, der Fernsehwerbung oder den Comics lernen: nämlich, daß es einen vollkommen anderen Weg gibt, um eine Geschichte filmgerecht zu erzählen, als mit den Mitteln des realistischen Theaters. Das Problem ist nur, wer schreibt uns solche Geschichten?
Von all Ihren Filmen blieb Barry Lyndon in Amerika relativ unbeachtet, obwohl er in Deutschland ein großer Erfolg war.
In Frankreich und Italien auch.
Warum ist dieser Film, den man als traditionelles Erzählkino nur dann mißverstehen könnte, wenn man die Augen schlösse, in Amerika nicht angekommen?
Ich weiß es nicht. Aber ich erinnere mich an einen Artikel des Kritikers Vincent Canby von der New York Times, der den Film auch mochte und deshalb darüber spekulierte, weshalb der Film nicht gut allgekommen sei. Er zitierte den Brief eines Filmtheaterbesitzers an den Verleih: Bitte schicken Sie mir keine Filme mehr, in denen der Held mit einem Federkiel schreibt!
Herr Kubrick, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Sind Sie Ein Misanthrop, Mr Kubrick? Gesprach Mit Dem Full Metal Jacket Regisseur
Hellmuth Karasek
Der Spiegel, 1987
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